Wir – Der Sommer als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr (2018)
19. Mai 2019 - Sebastian Seidler | 🕑 4 Minuten

TitelWir – Der Sommer als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr
OriginaltitelWij
Jahr2018
LandNiederlande, Belgien
GenreDrama, Thriller
VerleihDer Filmverleih GmbH
RegieRené Eller
DarstellerTijmen Govaerts, Aime Claeys, Salome van Grunsven, Laura Drosopoulos, Folkert Verdoorn, u.a.
Laufzeit100 Minuten
FSKab 18 Jahren
LinksIMDb, Letterboxd, OFDb


Ein Film so schön gefilmt, dass man den Sommer förmlich riechen kann. In einem belgisch-niederländischen Grenzdorf verbringen acht Teenager ihren letzten gemeinsamen Sommer. Sie werden die Schule bald verlassen. Das echte Leben steht vor der Tür. Noch ist es weit weg. Und so soll es auch bleiben. Diese viereckigen Gärten, mit ebenso viereckigen Häusern und langweiligen Menschen überall, die darin wohnen und in deren Gesichter man nicht schauen mag – es ist nicht zum Aushalten. Die Jugendlichen fahren auf ihren Fahrrädern (einer fährt Moped) über die Felder und überqueren eine Autobahnbrücke. Sie sind jung und schön. Der stetig dahinfließende Verkehr, dieser reißende Strom aus Blech ist in seiner lärmenden Monotonie der Ausdruck für das geordnete Leben, das man nicht führen möchte. Auf dieser Autobahnbrücke werden die Mädels ihre Röcke heben und ihr Geschlecht präsentieren. Später. Ein paar Grenzüberschreitungen später.

WIR ist das Spielfilmdebüt des niederländischen Regisseurs René Eller und die Adaption des Skandalromans von Elvis Peeters. Acht Jugendliche, vier Jungs und vier Mädchen – Thomas, Simon, Jens, Karl, Liesl, Ruth, Ena und Femke – beschließen, der bürgerlichen Enge zu entfliehen; indem Sie ihre Körper benutzen, sie zunächst erkunden und dabei schließlich immer mehr – so scheint es – Grenzen übertreten. Zunächst schläft jeder mit jedem – also die Männer mit allen Frauen. Die Jungs führen den Mädchen Gegenstände ein, die daraufhin raten müssen, um was (ein Feuerzeug?) oder um wessen Penis es sich handelt. Ein Bild, in welchem die männliche Dominanz deutlich wird.

Zunächst handelt es sich um pubertäre Spiele, die jedoch schon bald in der Idee münden, mit Pornos Geld zu verdienen. Damit setzt sich – belassen wir es zunächst bei dieser gängigen Beschreibung – eine Abwärtsspirale in Gang, die nicht mehr so einfach aufgehalten werden kann. Vom Porno-Dreh geht es in die (Zwangs-)Prostitition. Dazwischen, davor oder wann auch immer wird ein Hund auf dem Bahngleis festgebunden, ein tödlicher Unfall auf der Autobahn provoziert und schließlich stirbt eines der Mädchen bei einem Eiszapfen im Unterleib zuviel. Die Eltern sind abwesend, unwissend, hilflos. Der Bürgermeisterkandidat und weitere (oftmals einflussreiche) Männer nehmen die Dienste der minderjährigen Mädchen gerne an. Die Jungs ziehen derweil im Hintergrund die Fäden. Plötzlich hat man Geld – aber Geld kann man bekanntlich ja nie genug haben.

Nackheit als Rebellion zur Freiheit. © Der Filmverleih GmbH


Der Film beginnt im Gerichtssaal. Der Grund dafür bleibt lange unklar. Ein klassischer dramaturgischer Trick, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer_Innen zu erheischen. Wie sich später herausstellt, geht es um die Frage, wer Femke ermordet hat? Die Jungendlichen haben den Unfall vertuscht und schieben die Tat dem Bürgermeisterkandidaten in die Schuhe. Schließlich findet man am Körper der Toten auch dessen DNA, da er noch am Nachmittag des selben Tages mit ihr geschlafen hatte. Femke, die wunderschöne Femke, die alle begehrt haben und die den Neid der anderen Mädchen auf sich zog. Sie ist tot. Im Verlauf des Films passiert das einfach. Ein kurzer Moment der Trauer. Dann folgt die pragmatische Spurenbeseitigung. An der Dynamik der Geschichte ändert dieser tragische Unfall wenig. Es geht einfach munter weiter. Wobei man sich in keinem Moment sicher sein darf, was in den Erzählungen eigentlich der Wahrheit entspricht.

Alles kann eine Lüge sein. So lässt es die Struktur des Films zu. Vier Jugendliche der Gruppe erzählen unterschiedlichen Personen (Mutter, Freundin, Psychologe, Richter) die Geschichte aus ihrer Perspektive, die sich in immer neu ansetzenden Rückblenden auffächert und labyrinthisch wird. Nichts will sich hier zu einem Ganzen fügen. Zu sehr sind die Schilderungen mit dem Temperament der jeweiligen Figur durchsetzt: Der Tonfall, die eingeschlagenen Seitenwege und auch die Ästhetik der einzelnen Episoden unterscheiden sich. Die Lücken zu füllen, dazu sind die Zuschauer_Innen selbst aufgefordert.

WIR wird von vielen Kritiken als eine Geschichte der Grenzüberschreitung beschrieben. Angeblich handelt der Film von einer verkommenen Jugend, die einfach nicht mehr genug bekommt, der kein Kick mehr ausreicht. Eine Hölle aus Sex, Gewalt und Nihilismus. Böse, böse ist die Welt der Jugendlichen. Gut, gut, gut ist die Moral der Kinderstuben. Kinderlein habt eure Hormone im Griff. Doch so einfach ist es nicht. Der Film ist komplexer, als es die meisten Kritiken darstellen. WIR handelt nämlich nur auf der Oberfläche von Grenz-überschreitungen.

Der Film sieht harmlos aus. Hat es aber in sich. © Der Filmverleih GmbH

Im eigentlichen Sinne werden von den Jugendlichen keine Grenzen überschritten. Vielmehr werden die von der Gesellschaft sorgsam versteckten Abgründe der Menschen aufgetan und gespiegelt. Der Film, in seiner ganzen ästhetischen Form, ist der schonungslose Ausdruck eines männlichen, patriarchalen Abgrundes, der hinter und unter den bürgerlichen Fassaden schlummert und dem sich die Jugendlichen anschmiegen. Im Glauben, sie würden Grenze überschreiten und sich damit aus der geordneten Welt der Langeweile sprengen können, verstricken sich die Jugendlichen in einem gesellschaftlichen Sumpf – es wird nur explizit, was implizit bereits überall stattfindet, heimlich begehrt und getrieben wird.

Die Lehrer, Politiker und Familienväter treiben es mit den jungen Mädchen. Natürlich in den Hinterzimmern. Das Geld zirkuliert auf diesem Schwarzmarkt der Körperflüssigkeiten. Unter der Oberfläche der Reinheit zirkuliert eine Gewalt – eine männliche, phallische Gewalt. Wenn die Jugendlichen ermahnt werden, dann von den Müttern. Die Grenze, die innerhalb dieser Gesellschaft gezogen wird, ist eine, die von den Frauen bevölkert wird, die ihre Körper durchläuft: Die Heilige und die Hure. Die saubere, brave Hausfrau auf der einen Seite. Die schmutzige, willige Hure auf der anderen. Getrennt werden diese Welten von der zwanghaften Illusion der bürgerlichen Werte. Die Männer dürfen Weltenbummler sein, während die Frauen penetriert werden.  

Die Jugendlichen entdecken somit keine wirkliche Freiheit. Sie erfüllen nur abgründige Rollen, aber sie Überschreiten keine Grenzen. Sie sind vielmehr Parasiten, die sich mit dem gesellschaftlichen Virus infizieren, indem sie sich an ihm laben. Es ist eine Sucht, eine Gier nach Geld, Macht und mehr Orgasmen. Sie glauben, die gesellschaftlichen, kapitalistischen Kräfte benutzen zu können. Dabei reproduzieren sie jedoch nur die guten alten Machtstrukturen: Die Rebellion ist reinste Unterwerfung, fühlt sich nur ein bisschen geiler an.

Thomas ist der gewalttätige Anführer der Gruppe. © Der Filmverleih GmbH

Dabei sieht der Film so harmlos aus. Die Darsteller, aus einem Katalog des amerikanischen Fotografen Ryan McGinley gefallen. Der Film in seinen hellen, sommerdurchtränkten Bilder der reine Ausdruck eines jugendlichen Freiheitsdrangs. Alle Charaktere sind zu schön und die Frauen werden dazu lasziv in Szene gesetzt. Die Coming-of-Age-Ästhetik kreuzt sich geschickt mit Bildern der Hochglanzpornografie. Es gibt Hardcoreszenen. Brüste, errigierte Penisse und gespreizte weibliche Schenkel. Kompromisslos, aber niemals einfach nur der Provokation wegen. Eher wirkt diese Schönheit der Bilder irgendwann ausgehöhlt und oberflächlich. Aber genau das ist das Kalkül dieses Films, der die Kraft des europäischen Films mit Nachdruck unterstreicht.

Fazit

WIR ist ein verführerischer Film, der sich auf der Oberfläche als provozierender Coming-of-Age-Thriller gibt. Im Kern handelt es sich jedoch um eine subversive Kritik an den bestehenden Geschlechterverhältnissen. Expliziter Sex und Gewalt steigern sich im Verlauf des Films. Dabei entsteht vor allem durch die Erzählungen in Rückblenden eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann. Ein Film für Fans von anspruchsvollen und düsteren Filmen.